Klimaschutz, Biodiversität und Energieversorgung gemeinsam denken

24.07.2024 PerspectivE
Erneuerbare Energien sind nicht der Haupttreiber des Artensterbens. Es ist eher umgekehrt: Die Erneuerbaren können den Klimawandel begrenzen, um die Biodiversität zu erhalten. In einem Whitepaper haben Forschende der Initiative SPEED2ZERO die Zielkonflikte bewertet.
Gastautor
Dr. Cyril Brunner
ETH-Klimaforscher und wissenschaftlicher Projektleiter von SPEED2ZERO
Disclaimer
PerspectivE ist eine Plattform innerhalb der Website des VSE, auf welcher der Verband Branche, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft die kostenlose Möglichkeit bietet, für die Branche relevante Fachbeiträge und Analysen zu publizieren. Externe Autorinnen und Autoren äussern in diesen Beiträgen ihre persönliche Meinung. Diese gibt nicht zwingend die Ansichten und Haltung des VSE wieder.

Am 9. Juni hat das Schweizer Stimmvolk das Stromgesetz mit 69 Prozent angenommen. Ein weiterer Schritt, damit die Schweiz ihre gesetzten Klimaziele erreichen kann. Aber erneuerbarer Strom allein vermeidet in der Schweiz noch keine Tonne CO2: Die Elektrifizierung der Mobilität und der Gebäude ist entscheidend, um die Klimaziele zu erreichen. Da besteht noch Nachholbedarf.

Das Stromgesetz warf wichtige Fragen auf: Was sind die Folgen der Energiewende für Landschaft und Artenvielfalt? Und kann man gleichzeitig das Klima schützen, die Biodiversität erhalten und die Energieversorgung sichern?

Forschung zu Zielkonflikten

Es sind genau solche Schnittstellen und Zielkonflikte, mit denen sich die Schweiz in den kommenden Jahren auf dem Weg in die Klimaneutralität konfrontiert sieht. An diesen Schnittstellen forscht SPEED2ZERO, eine gemeinsame Initiative der Institutionen des ETH-Bereichs. In einem Whitepaper haben Forschende des Konsortiums aus den Fachbereichen Biodiversität, Landschaft, Energie und Klima einige dieser Abwägungen aus wissenschaftlicher Sicht bewertet und zusammengefasst. [1]

Die Diskussionen rund um das Stromgesetz, aber auch um die bevorstehende Abstimmung im Herbst zur Biodiversitätsinitiative sind sehr wichtig. Denn weltweit und gerade auch in der Schweiz geht die Biodiversität besorgniserregend zurück. Die Ursachen dafür sind hauptsächlich die Urbanisierung und die Landwirtschaft, aber nur in geringem Ausmass die Energieinfrastruktur.

Dennoch gibt es ihn, diesen Zielkonflikt zwischen neuen Anlagen und dem Schutz der Biodiversität: Wasserkraftwerke unterbrechen die Wanderwege von Fischen und stören das ökologische Gleichgewicht der Flüsse; Solaranlagen werfen Schatten und können Vegetation und Tiere beeinträchtigen; Vögel und Fledermäuse kollidieren mit Windturbinen. So sterben gemäss Studien in der Schweiz pro Windturbine etwa so viele Vögel, wie zwei Hauskatzen pro Jahr fressen.

Allerdings trägt der Klimawandel selbst zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. Gelingt es uns nicht, ihn einzudämmen, wird das immer wärmere Klima voraussichtlich zu einem der Haupttreiber des Artensterbens. Hinzu kommt, dass der Klimawandel bereits Landschaften im grossen Stil verändert. Davon zeugen die abschmelzenden Gletscher, aber auch der auftauende Permafrost, der Berge bröckeln und Hänge instabil werden lässt, oder verdorrende Waldstriche wegen langer Trockenperioden. Ein zentrales Argument für die gesetzten Klimaziele ist denn auch, die verheerenden Folgen für Biodiversität und Landschaften zu mindern.

Voraussichtlicher Verlust der Biodiversität bei einer globalen Erwärmung von 1.5, 2, 3 und 4 Grad Celsius [2]

Ohne Kompromisse geht es nicht

Die Schweiz will den Ausstieg aus fossilen Brenn- und Treibstoffen primär durch Wärmepumpen und Elektromobilität erreichen und ihren wachsenden Strombedarf vor allem durch Photovoltaik und Wasserkraft decken. 2023 wuchs die erneuerbare Stromproduktion angesichts Energiekrise und geopolitischer Spannungen um so viel an, dass in weiteren 25 Jahren die zusätzlich benötigte Strommenge für eine klimaneutrale Schweiz produziert werden könnte – doch es ist unwahrscheinlich, dass sich das Tempo von 2023 ohne zusätzliche Massnahmen halten lässt. Das Stromgesetz setzt Anreize und baut altbekannte Hürden ab.

Es ist klar: Jede neue Infrastruktur wirkt sich auf Biodiversität und Landschaft aus. Eingriffe können aber auf ein Minimum reduziert werden – entscheidend ist dabei die Bewertung des Standorts. Im Whitepaper werden vier Grundsätze vorgestellt, welche die Entscheidungsfindung unterstützen können.

4 Grundsätze zur biodiversitätsschonenden Standortoptimierung
 

  • Das Prinzip des minimalen Ausmasses: Erfolgreicher Biodiversitätsschutz erfordert ein minimales Flächenausmass.
  • Das Prinzip der Komplementarität: Gebiete, die von Arten bewohnt werden, die durch bestehende Schutzgebiete nicht gut geschützt sind, sollten für neue Bauten gemieden werden.
  • Das Prinzip der Konnektivität: Gebiete, die im Idealfall bestehende Schutzgebiete innerhalb der Migrationsdistanz der meisten Arten verbinden, sollten für neue Bauvorhaben vermieden werden.
  • Das Nachhaltigkeitsprinzip: Ein erfolgreicher Schutz der Biodiversität und die Erhaltung funktionierender Ökosysteme leisten einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Installationen auf bestehender Infrastruktur die Natur am wenigsten beeinträchtigen, gefolgt von menschlichen Einflussgebieten wie Bergbahnen, Äckern oder Weiden. Kantone müssen geeignete Gebiete für Wasserkraft-, Windkraft- oder grosse Solaranlagen festlegen. Dabei gibt es definierte Anforderungen an den Landschafts- und Biotopschutz sowie die Walderhaltung. Zudem bestehen Mitsprache- und Beschwerdemöglichkeiten für die Bevölkerung.

Von allen Erneuerbaren haben Wasserkraftwerke den grössten negativen Einfluss auf die Biodiversität, Speicherseen vor allem lokal. Bei den 15 geplanten Wasserkraftprojekten im Stromgesetz handelt es sich in 13 Fällen um bestehende Speicherseen, die erweitert oder in einem Fall neu energetisch erschlossen würden. Der negative Einfluss ist bei diesen Erweiterungen viel kleiner als bei Anlagen an neuen Standorten. Zwei Projekte sind neue Speicherseen an Orten, wo zuvor eine Gletscherzunge war.

Veränderungen sind unausweichlich

Es scheint jedoch falsch, neue Infrastruktur abzulehnen, nur weil sie nicht frei von Folgen ist. Zu einem Wandel der Landschaft kommt es ohnehin – nichts zu tun bedeutet nicht, dass sich die Natur nicht verändert. Fortschritte beim Klimaschutz sind dringend notwendig.

In der Debatte über die Folgen der Erneuerbaren kann man aus wissenschaftlicher Sicht betonen, dass solche Anlagen nicht die Hauptursache für die schwindende Artenvielfalt sind. Die Biodiversitätskrise ist jedoch ebenso real und lebensbedrohend wie der Klimawandel. Beides können wir nur zusammen lösen – und ein Schlüssel dazu sind erneuerbare Energien.

Als Gesellschaft kommen wir nicht darum herum, uns dieselben unbequemen Fragen auch in weiteren Lebensbereichen zu stellen. So sollten wir die wesentlichen Ursachen des Biodiversitätsverlustes [3] genauso offen diskutieren und pragmatische Kompromisse finden. Die Biodiversitätsinitiative ist ein guter Anlass dazu.

Referenzen

[1] Brunner, C., Lordan-Perret, R., Cadelli, E., Salzmann, N., Karger, D. N. & Zimmermann, N. E. (2024). Gekoppelte Herausforderungen für die Schweiz – Schnittstellen im Klimaschutz, Biodiversitätsschutz, Energiesicherheit und Landschaftsschutz. Whitepaper.

[2] IPCC (2022). Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Technical Summary. Abbildung TS.5 (S. 72-73).

[3] SCNAT (2022). Trendwende Klima und Biodiversität.
 

SPEED2ZERO

Die gemeinsame Initiative SPEED2ZERO trägt dazu bei, die Treibhausgasemissionen bis 2030 zu halbieren, die dafür notwendige Infrastruktur vorzubereiten, ein resilientes Energiesystem aufzubauen und die Biodiversität zu erhalten.

SPEED2ZERO zielt darauf ab, Disziplinen und Institutionen des ETH-Bereichs mit der Privatwirtschaft, der Regierung und der Politik zu vernetzen, um eine Gemeinschaft von Experten und Stakeholdern aufzubauen. Das Konsortium besteht aus ETH Zürich, WSL, EPFL, Eawag,  PSI, Empa und SDSC. Das Projekt wird vom ETH-Rat unterstützt.

Zur Website

Die Branche hat das Wort

Spannende Themen, unterschiedliche Blickwinkel, innovative Ideen: PerspectivE bietet Fachbeiträge und Analysen von der Branche für die Branche. Entdecken Sie hier neue Perspektiven für die Energiewelt von morgen.

Autor/in werden