Quo vadis Energiestrategie 2050?

01.09.2023
Die Schweiz strebt Netto-Null bis 2050 an. Der Schlüssel dazu ist ein bezahlbarer Umbau des Energiesystems hin zu erneuerbaren Energien und hoher Energiesouveränität.
Gastautor
Matthias Sulzer
Leitender Wissenschafter im Urban Energy System Lab an der Empa
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Die Schweiz hat sich entschieden, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Die Herausforderung ist nun der Umbau unseres Energiesystems. Studien, wie beispielsweise die Energiezukunft 2050 von VSE und Empa, und Debatten vor der Abstimmung analysierten die Auswirkungen des Umbaus, wobei die Energieimporte, der Zubau von Erneuerbaren und die Kosten im Fokus standen. Diese Erkenntnisse sollten zur Justierung der Energiestrategie genutzt werden.

Durchleuchten wir den erstgenannten Aspekt: Oft wird Versorgungssicherheit mit Energieimporten oder der Energieunabhängigkeit gleichgesetzt. Viel wichtiger wäre, eine hohe Energiesouveränität (adaptiert aus NZZ Libro: «Souveränität im Härtetest, Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen», ISBN: 978-3-03823-649-8) anzustreben, indem die Schweiz grosse Teile der Lieferketten kontrolliert, um verlässliche Importe zu jeder Zeit und in jeder Krise zu sichern. Es reicht nicht aus, in norddeutsche Windparks oder französische Kernkraftwerke zu investieren, ohne ein belastbares Stromabkommen mit der EU abzuschliessen. Auch die Diversifizierung der Energieversorgung mit Wasserstoff ist wirkungslos, wenn wir lediglich Lieferverträge mit ausländischen Produzenten abschliessen. Es ist ratsam, strategische Investitionen im Ausland zu tätigen und krisenfeste Verträge auszuhandeln. Eine effektive Integration und Mitsprache auf internationaler Ebene stärkt unsere Energiesouveränität, indem gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen werden und somit Lieferungen auch in Krisen durchgesetzt werden können.

Der zweite Aspekt ist thematisch ähnlich, jedoch andersartig: Der Ausbau der heimischen Energieerzeugung bedeutet demzufolge nicht nur die Installation von Photovoltaik- oder Windkraftanlagen, sondern auch die Sicherstellung der Herstellung, Lieferung und Wartung solcher Anlagen. Im Bereich der Wasserkraftanlagen haben wir bereits eine hohe Souveränität in den Lieferketten erreicht. Über Jahrzehnte hinweg wurde eine enorme Expertise und Integration aufgebaut. Bei den neuen Technologien besteht eindeutig Handlungsbedarf, um die Energiesouveränität zu stärken.

Die Option Kernkraft kann die Energiesouveränität der Schweiz langfristig steigern. Wieviel einheimische Kernkraft für das Energiesystem Schweiz sinnvoll ist, muss ebenfalls aufgrund der Lieferketten beurteilt werden: Welche Technologie ist wann verfügbar und wie beherrschen wir deren Lieferkette? Kurzfristig, d. h. bis 2040, wird diese Option wenig Wirkung auf die Versorgungssicherheit haben, und wir tun gut daran, die Souveränität in den heute verfügbaren Lieferketten zu stärken.

Der dritte Aspekt, welcher ebenfalls in den Mittelpunkt der Energiestrategie gerückt ist, sind die Kosten: Minimale Energiekosten werden durch einen abgestimmten Mix aus inländischer Produktion und Importen erreicht. Eine mehrheitlich inländische Produktion erhöht die Kosten des Energiesystems, und im Falle einer vollständigen Energieautarkie würden die Kosten explodieren. Das Finden des Schweizer Optimums ist somit eine Frage der Energiesouveränität: Importe aus Infrastrukturen, in denen die Schweiz eine hohe Souveränität hat, sind wertvoller als Importe aus Lieferketten, auf die wir wenig Einfluss nehmen können.
Zusätzlich zu beachten gilt, dass Privatpersonen, Gewerbetreibende und die Industrie den grössten Teil der zukünftigen Investitionen tragen müssen, indem sie Heizsysteme umstellen, Effizienzmassnahmen umsetzen und auf Elektromobilität umsteigen. Natürlich werden sich diese Investitionen in der Zukunft auszahlen und wirtschaftlich attraktiv werden. Jedoch sind zum Zeitpunkt des Wechsels erhebliche finanzielle Mittel erforderlich.

Fazit: Bei der Umsetzung des neuen Klimagesetzes ist die Politik gefordert, die Energiestrategie zu präzisieren und zu ergänzen: Präzisieren, indem der Investitionsbedarf jeder Interessengruppe identifiziert und effektiv unterstützt wird. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, damit der Umbau schnell, erschwinglich und gerecht stattfindet. Ergänzen, indem eine starke Energiesouveränität berücksichtigt wird. Dies bedeutet heute staatliche Industriepolitik. Obwohl in der Schweiz verpönt, zeigen uns andere Länder wie die USA, China und Deutschland, wie es gemacht wird. Wir müssen uns mit einer aktiven Industriepolitik auseinandersetzen. Dies stärkt unsere Position im europäischen Kontext, garantiert zwar keine Energieunabhängigkeit, verbessert jedoch die Energiesouveränität und somit die Versorgungssicherheit.

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