Zukunft Wasserstoff: «Wir sind weit von einem gemeinsamen Verständnis entfernt»

14.09.2023
Damit Wasserstoff im Schweizer Energiesystem eine Zukunft hat, braucht es möglichst zeitnah eine strategische Perspektive und vor allem eine enge Anbindung an die europäische Wasserstoffmarkt und -infrastruktur, die aufgebaut werden. Nadine Brauchli ist Leiterin Energie beim VSE und erklärt, wie die Schweiz den Anschluss beim Thema Wasserstoff nicht verliert.

Nadine Brauchli, der VSE bezeichnet Wasserstoff als vielversprechenden Energieträger für die Zukunft. Was ist die Rolle von H2 im künftigen Energiesystem der Schweiz?

Wasserstoff kann wesentlich zur Stromproduktion im Winter beitragen: Thermische Kraftwerke, die mit Wasserstoff betrieben sind, haben den grossen Vorteil, dass sie steuerbar, flexibel und natürlich klimafreundlich sind. Wasserstoff kann so die erneuerbare, mehrheitlich wetterabhängige Produktion aus Wasserkraft, PV und Windkraft komplementieren. Sofern Wasserstoff künftig günstig und in grösseren Mengen aus der EU importiert werden kann, wovon wir in der «Energiezukunft 2050» ausgehen, ist ein Energiesystem mit Wasserstoff günstiger und robuster als andere Systeme. Wasserstoff wird zudem in Anwendungen, die nur schwer elektrifiziert werden können, eine Rolle spielen. Ich denke etwa an die Industrie oder den Verkehrssektor (Schwerlastverkehr).

Damit grüner Wasserstoff ab 2040 im grossen Stil importiert werden kann, braucht es ein Energieabkommen mit der EU. Ist das Szenario realistisch genug, um sich voll darauf zu verlassen?

Wir brauchen ein Abkommen mit der EU im Bereich Energie, denn die Schweiz wird auch in Zukunft bei vielen Energieträgern auf Importe, aber auch Exporte angewiesen sein. Der Austausch macht das Gesamtsystem robuster und effizienter. Ein Stromabkommen ist zwar prioritär, wird langfristig aber kaum reichen, da Energieträger vermehrt ineinander überführt werden und nicht losgelöst gedacht werden können (Sektorkopplung) – wohl auch nicht in der EU.

Nadine Brauchli, Leiterin Energie und Mitglied der Geschäftsleitung beim VSE.

Und wenn es keine politische Lösung für ein Energieabkommen gibt?

In der «Energiezukunft 2050» haben wir verschiedene Szenarien gerechnet, die zeigen, dass die Erreichung der Klimaziele und Versorgungssicherheit gleichzeitig möglich ist. Sie geben uns die Richtung und den Handlungsbedarf vor. Sollte sich ein Weg nicht umsetzen lassen, so müssen Alternativen verfolgt werden. Allenfalls sind diese Alternativen dann aber deutlich teurer oder Risiko behafteter – dies haben die entsprechenden Szenarien in unserer Studie deutlich gezeigt.

Die Alternative zum Import wäre, Wasserstoff selbst im Inland herzustellen. Gemäss «Energiezukunft 2050» ist das aber weniger wirtschaftlich. Trotzdem treiben viele Mitgliedunternehmen innovative Wasserstoff-Projekte voran…

Es gibt Standorte in der Schweiz, wo gute Voraussetzungen herrschen, um Wasserstoff wirtschaftlich herzustellen. Diese Standorte werden nun zuerst erschlossen. Dies ist wichtig und ermöglicht auch, dass wir für ausgewählte Anwendungen eine kleine Grundmenge an Eigenproduktion haben. Auch können wir so Kompetenzen und das Know-how aufbauen. Ob sich aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen, wie technischer Fortschritte bei der Elektrolyse, Änderungen der Regulierung, der Marktentwicklung (hohe Nachfrage und Wasserstoffpreise) oder sehr starker Ausbau an erneuerbaren Energien auch weitere Orte eignen werden, wird sich zeigen.

Zu Wasserstoff gibt es noch grosse Wenn und Aber. Was braucht es, damit Wasserstoff in der Schweiz eine Rolle spielen kann?

Wir müssen erst ein gemeinsames Verständnis darüber entwickeln, welchen Beitrag Wasserstoff im Schweizer Energiesystem leisten kann. Erst dann können die notwendigen Schritte abgeleitet werden. Von einem gemeinsamen Verständnis sind wird leider noch weit entfernt und hinken Europa klar hinterher. Der VSE hat die Diskussion generell um Sektorkopplung und spezifisch auch Wasserstoff schon seit geraumer Zeit geprägt. Daher war für uns auch klar, dass wir gemeinsam mit dem VSG die Studie «Rahmenbedingungen für Wasserstoff in der Schweiz» von Polynomics, E-Bridge Consulting und EPFL finanziell und inhaltlich unterstützen. Ziel ist es, die Diskussion national und faktenbasiert voranzutreiben.

«Der VSE hat die Diskussion generell um Sektorkopplung und spezifisch auch Wasserstoff schon seit geraumer Zeit geprägt.»

Die Studie identifiziert politischen und regulatorischen Handlungsbedarf. Was ist konkret zu tun?

Die Studie zeigt Handlungsbedarf in vier Bereichen auf: Erstens brauchen wir übergeordnet eine nationale Strategie zu Wasserstoff. Sie soll aufzeigen, welchen Beitrag Wasserstoff zum Energiesystem leisten kann und soll. Zweitens gilt es bereits jetzt, den Weg für wichtige Infrastrukturen zu ebnen. Bis diese errichtet sind, braucht es Zeit. Die Schweiz braucht Transport- und Speichermöglichkeiten, auch sind für die grenzüberschreitende Verbindung gemeinsame Projekte mit den Nachbarländern wichtig. Drittens müssen Voraussetzungen für den Handel von Wasserstoff und seine Wettbewerbsfähigkeit geschaffen werden (z.B. Herkunftsnachweissystem und Marktplätze). Und zu guter Letzt muss die noch herrschende Rechtsunsicherheit reduziert werden, indem Wasserstoff oder generell erneuerbare Gas in der Regulierung mitberücksichtigt und technische Standards festgelegt werden.

Die Schweiz hinkt der EU in Sachen H2 hinterher. Nun soll der Bund in der zweiten Hälfte 2024 eine Wasserstoffstrategie präsentieren. Was erwartest Du von diesem Papier?

Das Strategiepapier des Bundes muss eine wichtige Basis für weitere Schritte sein, und vor allem ein politisches Signal an die hiesigen Akteure aussenden, wohin die Reise bezüglich Wasserstoffs geht. Aus der Strategie muss hervorgehen, wo und in welchen Mengen Wasserstoff zum künftigen Energiesystem beitragen kann und welches die wahrscheinlichen Anwendungsfelder sind. Sie muss auch klären, woher der Wasserstoff stammen soll (Anteil Inland und Ausland), welche Länder die Schweiz beliefern könnten und wie die Zusammenarbeit mit diesen Ländern aussieht. Je nachdem braucht es auch inländische Speichermöglichkeiten. Um all das zu ermöglichen, muss die Strategie auch den regulatorischen Anpassungsbedarf aufzeigen. Der Vollständigkeit halber muss die Strategie auch Alternativen vorsehen, sollte Wasserstoff der Marktdurchbruch nicht gelingen.