Qualitätsreserven besser ausschöpfen

24.06.2024 PerspectivE
Um das Verteilnetz effizient zu planen und zu nutzen, ist es wichtig, die Qualitätsreserven zu kennen und alternative Massnahmen zur Netzverstärkung gezielt einzusetzen. Im Projekt QuVert wurden die Qualitätsreserven analysiert, Massnahmen verglichen und ein generisches Überwachungskonzept formuliert.
Gastautor
Stefan Schori
Gruppenleiter Labor für Elektrizitätsnetze, Berner Fachhochschule
Gruppenleiter Labor für Elektrizitätsnetze, Berner Fachhochschule
Gastautor
Ron Buntschu
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Labor für Elektrizitätsnetze, Berner Fachhochschule
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Labor für Elektrizitätsnetze, Berner Fachhochschule
Gastautor
Michael Höckel
Professor für Energiesysteme, Berner Fachhochschule
Professor für Energiesysteme, Berner Fachhochschule
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Während rund drei Jahren wurden die Qualitätsreserven in einigen Mittel- und Niederspannungsnetzen von sechs Netzbetreibern untersucht. Dazu wurden die Spannungsqualität (Power Quality, PQ) und die Auslastung erfasst. Die Qualitätsreserve bezeichnet den Abstand des gemessenen, normrelevanten Pegels eines PQ-Parameters zum entsprechenden Grenzwert. Die Einhaltung der EN50160 [1] wurde auch in Fällen analysiert, in denen gewisse Anlagen vom Verteilnetzbetreiber bewusst über die Grenzen der heutigen «Technischen Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen DACHCZ» (TRBNr DACHCZ) hinaus zugelassen wurden [2]. 

Das Ziel des vom Bundesamt für Energie BFE geförderten Projekts war, auf Basis von Messungen in Verteilnetzen und einer umfassenden Datenanalyse die technischen und wirtschaftlichen Potenziale aufzuzeigen, die die Anwendung verschiedener Massnahmen zur Einhaltung der Spannungsqualität bietet.

Messkampagnen

Bei sechs Verteilnetzbetreibern haben die Geräte Linax PQ 5000 des Projektpartners Camille Bauer Metrawatt jeweils während mehrerer Monate die Spannungsqualitätsparameter und die Auslastung erfasst. Ausserdem hat das Projektteam an ausgewählten Messpunkten die frequenzabhängige Netzimpedanz mit dem Online-Network Impedance Spectrometer ONIS 1000 Premium von morEnergy gemessen.

Spannungsqualität und Auslastung

Die Analyse der untersuchten Verteilnetze ergab, dass sie zurzeit im Allgemeinen mittlere bis grosse Qualitätsreserven hinsichtlich Auslastung und Spannungsqualität im Vergleich mit den Grenzwerten aufweisen (Bild 1). Die Analyse konzentrierte sich auf Netze, in denen von den Netzbetreibern eine starke Auslastung und geringe Qualitätsreserven vermutet wurden. Die Ergebnisse zeigten jedoch, dass nur wenige Messpunkte eine kritische Spannungsqualität aufwiesen. In solchen Fällen wurden Anschlüsse zugelassen, deren berechnete Werte die empfohlenen Vorgaben der technischen Regeln überstiegen. Die erwähnten Messpunkte mit kritischer Spannungsqualität sind in Bild 1 nicht dargestellt.

Bild 1: Übersicht der gemessenen Qualitätsreserven in pu (per unit) unter Anwendung der heutigen Anschlussregeln. Erfasst wurden die Reserven in acht Trafostationen (TS), siebzehn Verteilkabinen (VK) und bei neun Hausanschlüssen (HA).

Oberschwingungen im Bereich der Ordnungszahlen 11 bis 25 zeigten oft Reserven von 50 bis fast 100%. Die 15. und die 21. Harmonische wiesen trotz der 2019 heraufgesetzten Grenzwerte geringe Reserven von weniger als 50% auf. Die Spannungsniveaus waren teilweise erhöht, insbesondere im Zusammenhang mit den eingestellten Trafostufen oder PV-Anlagen bei geringer Last im Sommer. Dabei korrelierte die Spannungsqualität nicht zwangsläufig mit der Auslastung. Auch in schwach ausgelasteten Netzen sind Grenzwertüberschreitungen möglich. In Trafokreisen mit vielen neuen Anschlüssen können Spannungsqualitätsprobleme durch eine Häufung von gleichartigen Geräten auftreten. Zudem wurden bei der Spannungsqualität beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Netzen der Netzbetreiber gemessen. 

Abweichung von den Technischen Regeln

Während des Projekts wurde anhand der 3%-Regel exemplarisch analysiert, ob von den TRBNr DACHCZ abgewichen werden kann, ohne Grenzwerte nach EN50160 zu verletzen. Resultat: Von der 3%-Regel kann in denjenigen Fällen abgewichen werden, in denen Netzsimulationen zeigen, dass Spannungsgrenzwerte an allen Netzknoten eingehalten werden. Die 3%-Regel ist lediglich eine Empfehlung, von der abgewichen werden kann. Der obere Grenzwert nach EN50160 (Nennspannung Un +10%) muss hingegen zwingend eingehalten werden. Um eine Abweichung von der Regel ohne Grenzwertverletzung zu gewährleisten, ist die korrekte Einstellung der Spannungssollwerte an Transformatoren erforderlich, unter Berücksichtigung der zulässigen Spannungserhöhung über der Mittelspannungsebene. Hierbei sind auch allenfalls im Betrieb nötige MS-Umschaltungen zu betrachten.

Das Wissen darüber, dass bei einer genauen Netzsimulation von der 3%-Regel abgewichen werden darf, hat einen Projektpartner dazu veranlasst, das Konzept «Messen und Regeln» zu formulieren und umzusetzen. Bei diesem Konzept beurteilt der Netzbetreiber Netzanschlussgesuche mit berechneter Spannungsanhebung zwischen 3 und 5% unter Berücksichtigung alternativer Massnahmen neu. Das Konzept ist im nächsten Absatz nebst anderen Massnahmen beschrieben.

Massnahmen zur Einhaltung der Spannungsqualität

Verschiedene Massnahmen zur Einhaltung der Spannungsqualität und zur Ausnutzung von Auslastungs- und Qualitätsreserven wurden analysiert und verglichen. Die Anpassung der Trafostufe auf der Netzebene 6 (Mittelspannung zu Niederspannung) erwies sich als effektive Möglichkeit, um PV-bedingte Spannungserhöhungen zu reduzieren. Durch das Absenken der Trafostufe konnte der Abstand zum oberen Spannungsgrenzwert erhöht werden, was die Zulassung weiterer PV-Anlagen ermöglichte. Bei einer Absenkung der Trafostufe ist darauf zu achten, dass noch genügend Reserve zum unteren Spannungsgrenzwert vorhanden ist. Bild 2 zeigt die Spannungen in einem Netz vor und nach einer Anpassung der Trafostufe. Vor der Absenkung lag die Spannung im Phasenleiter L2 nur 0,5 V unterhalb des Grenzwerts (Messpunkt C1P1-60). Da in diesem Netz noch weitere PV-Anlagen angeschlossen werden sollten, wurde die Trafostufe abgesenkt. Dadurch war der Netzbetreiber in der Lage, das Spannungsniveau herabzusetzen und neue PV-Anlagen anzuschliessen, ohne den Grenzwert zu verletzen.

Bild 2: Spannungen in zwei Verteilkabinen (C1V1 und C1V2) und bei einer PV-Anlage (C1P1-60) im Juli 2022 (blau) und im Juli 2023 (orange). Die Minimalwerte und der Median sanken durch eine Anpassung der Trafostufe um rund 6 V. Der Maximalwert nahm nur etwa um 3 V ab, weil zwischenzeitlich neue PV-Anlagen angeschlossen wurden und weil gleichzeitig eine Blindleistungsregelung falsch eingestellt war.

Die Wirk- und Blindleistungsregelung bei PV-Anlagen sind kostengünstige Optionen, um Überspannungen durch die PV-Einspeisung zu verhindern und mehr PV-Anlagen ohne Netzverstärkung anzuschliessen. Allerdings hängt der Effekt stark von der gewählten Regelstrategie und dem Charakter der Kurzschlussimpedanz ab. Zudem können Produktionsverluste (bei der Wirkleistungsregelung) oder zusätzliche Netzverluste (bei der Blindleistungsregelung) auftreten. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Reduktion der Wirkleistung um 20 bis 30% den Jahresenergieertrag nur um bis zu 7% verringert [3]. Interessant ist hinsichtlich des aktuell diskutierten Mantelerlasses, dass eine Wirkleistungsreduktion um 20% bei allen betrachteten Ausrichtungen eine Reduktion der Jahresenergie von weniger als 3% zur Folge hätte.

Bei der Einstellung der Blindleistungsregelung ist darauf zu achten, dass das Vorzeichen der am Wechselrichter eingestellten Blindleistung korrekt ist. Die Einstellung hängt davon ab, ob diese auf Basis des Erzeuger- oder Verbraucherpfeilsystems zu erfolgen hat. Im Projekt konnte eine falsch eingestellte Blindleistungsregelung identifiziert werden. Dabei wurde die Spannung angehoben statt abgesenkt. Die blaue Kurve in Bild 3a zeigt den gemessenen Verlauf der falsch eingestellten Blindleistung. Demgegenüber stellt die orange Kurve den berechneten Verlauf einer korrekt eingestellten Regelung dar. Positive Werte stehen für induktive Blindleistung (senkt die Spannung) und negative Werte für kapazitive Blindleistung (erhöht die Spannung). In Bild 3b ist die Differenz der Spannung zwischen gemessener, falsch eingestellter und gerechneter, richtig eingestellter Blindleistungsregelung erkennbar. Sie beträgt rund 2 V. Durch die falsche Parametrierung wurde die Spannung am Messpunkt also etwa um 1 V angehoben, während die richtige Einstellung die Spannung um etwa 1 V senken würde.

Bild 3: Verlauf einer falsch eingestellten, gemessenen (blau) und einer korrekt eingestellten, gerechneten (orange) Blindleistungsregelung.
a) Verschiebungsblindleistung der Grundschwingung im Phasenleiter L2;
b) Spannung zwischen Phasenleiter L2 und Neutralleiter.

Das während des Projekts von einem Netzbetreiber umgesetzte Konzept «Messen und Regeln» ermöglicht mittels permanenter PQ-Messung und P(U)-Regelung des Wechselrichters an kritischen Anschlusspunkten eine gezielte Überwachung und Regelung von Anlagen, um Grenzwertverletzungen zu verhindern. Dies kann eine kosteneffiziente Alternative zum Ausbau der kundenseitigen Anschlussleitung bzw. zur Netzverstärkung darstellen. Denn mit diesem Konzept kann der Netzbetreiber den Anschluss einer PV-Anlage auch dann ohne Netzausbau bzw. Netzverstärkung bewilligen, wenn die berechnete Spannungsanhebung gemäss vorheriger Beurteilung zwischen 3 und 5% liegt. 

Eine Netzverstärkung wirkt sich grundsätzlich positiv auf die Spannungsqualität und die Auslastung aus und kann die Qualitätsreserven im Netz erhöhen. Jedoch muss sich dies nicht automatisch vorteilhaft auf die Pegel der Spannungsqualitätsparameter auswirken, wenn die Netzrückwirkungen nicht im betroffenen Niederspannungsnetz verursacht werden.

Ausserdem schlägt das Projektteam die Überwachung als alternative Massnahme vor. Da bei einer kontinuierlichen Überwachung der Spannungsqualität an relevanten Netzknoten die Qualitätsreserven bekannt sind, hat man die Sicherheit, dass auch dann keine Grenzwertverletzungen auftreten, wenn Netzanschlüsse ohne weitere Massnahmen zugelassen werden. Zur Umsetzung dieser Massnahme haben die Projektpartner ein generisches Überwachungskonzept formuliert.

Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Wahl von Massnahmen die Netztopologie, die Anlagenstruktur und die Leistungsflüsse zu berücksichtigen sind. Fazit: Künftig wird ein Mix aus intelligenten Massnahmen gefragt sein, mit Überwachung und Netzverstärkungen bzw. Netzausbauten.

Generisches Überwachungskonzept

Die punktuelle, kontinuierliche Überwachung der Spannungsqualität ist bei einer zunehmenden Elektrifizierung eine wichtige Massnahme, um Stromnetze effizient auszunutzen und unnötige Netzinvestitionen zu vermeiden. Die Messungen in verschiedenen Niederspannungsnetzen haben gezeigt, dass heute an den meisten Netzknoten genügend Qualitätsreserven vorhanden sind und folglich insbesondere die Überwachung von neuralgischen Punkten ökonomisch sinnvoll ist. Eine flächendeckende Messung scheint keinen signifikanten Mehrwert zu bringen. Wesentlich ist jedoch die Identifikation der Netzknoten mit geringen Qualitätsreserven und derjenigen mit absehbarer Verschlechterung der Qualitätsreserven. Daher wurde im Schlussbericht ein generisches Überwachungskonzept formuliert, das eine einfache, möglichst kostengünstige Beurteilung der Spannungsqualität im Niederspannungsnetz ermöglichen soll. Auf der Grundlage der Projektergebnisse wird zudem die Entwicklung eines einfacheren, kostengünstigeren Messgeräts vorgeschlagen, das Messungen der relevantesten Parameter ermöglicht.

Effizientes Verteilnetz

Der Projektschlussbericht stellt die Projektergebnisse zusammen und gibt Empfehlungen für die Umsetzung entsprechender Massnahmen ab [4]. Durch die Beschreibung der heutigen Qualitätsreserven in verschiedenen Verteilnetzen und die Kenntnis, wie sich diverse Anlagen und Netzkonstellationen darauf auswirken, haben die Netzbetreiber ein besseres Verständnis des aktuellen Zustands und sind in der Lage, kommende Veränderungen besser einzuschätzen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit von permanenten PQ-Messungen an ausgewählten Netzknoten im Niederspannungsnetz. Die beschriebene Massnahme «Überwachung» und das Konzept «Messen und Regeln» können dabei helfen, die Qualitätsreserven im Sinne eines effizienten Verteilnetzes besser auszunutzen und dabei sicherzustellen, dass die Grenzwerte nicht überschritten werden.

Aufgrund der gemessenen Qualitätsreserven stellt sich die Frage, ob die aktuellen Planungsgrundsätze für einen kosteneffizienten Netzausbau ausreichen oder ob Ergänzungen in Bezug auf den Einsatz von sogenannten Smart-Grid-Technologien möglich sind. Dies wird in einem weiteren BFE-Projekt mit dem Namen PLANET (Optimale Nutzung der Technischen Regeln bei einer effizienten Netzplanung) mit vierzehn Projektpartnern analysiert [5].

Referenzen

[1] SNV, EN50160, Merkmale der Spannung in öffentlichen Elektrizitätsversorgungsnetzen, 2022.

[2] VSE, OE, VDE FNN, CSRES, Technische Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen, Aarau, 2021.

[3] M. Markstaler, K. Frick, M. Höckel, «Wie viel Photovoltaik verträgt das Verteilnetz?», Bulletin Electrosuisse 8/2023, S. 15. www.bulletin.ch/de/news-detail/wie-viel-pv-vertraegt-das-verteilnetz.html

[4] «Projekt QuVert», BFE, BFH, HES-SO, Camille Bauer Metrawatt, AEW, Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun, IB-Murten, Primeo Energie, Repower, SIG, 2020–2024. www.aramis.admin.ch/Texte/?ProjectID=47340

[5] «Projekt PLANET», BFH, BFE, Camille Bauer Metrawatt, AEW, BKW, CKW, Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun, EW Höfe, EWZ, IB-Murten, Primeo Energie, Repower, Secure Switzerland, SIG. www.bfh.ch/de/forschung/forschungsprojekte/2023-526-901-497

Der Artikel ist als Erstveröffentlichung in der Fachzeitschrift Bulletin.ch erschienen.

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