«Dann könnte die Zustimmung leiden»

17.11.2023
Anfang Dezember beginnt die 52. Legislatur. Im Interview erklärt Wahlforscher Urs Bieri von gfs.bern, wie sich die Wahlergebnisse auf die Energiepolitik der nächsten Jahre auswirken und ob die steigenden Strompreise die Zustimmung in der Bevölkerung zur Energiestrategie beeinflussen.

Urs Bieri, was sticht für Sie bei den Wahlen 2023 heraus?

Jede Wahl bringt Unerwartetes. Für mich sticht unter anderem die Abwahl der Grünen Ständerätin Lisa Mazzone aus Genf heraus. Die grösste Überraschung war aber etwas, das gar nicht eingetroffen ist: Die Covid-Pandemie, ein Jahrhundertereignis, hatte keinen Einfluss auf die Wahl. Von den massnahmen- und systemkritischen Stimmen ist nichts geblieben. Das zeigt, wie schnelllebig die heutige Zeit ist. Ein Ereignis kann heute prägend und morgen schon vergessen sein.

Trifft das auch auf die Sorge um das Klima zu?

Ja und Nein. Die Klimakrise wird weiterhin als grosses Problem in der Bevölkerung wahrgenommen, das sehen wir im Sorgenbarometer. Das Klima ist nach wie vor sehr präsent und wichtig. Es war aber definitiv keine Klimawahl wie vor vier Jahren. Andere, vor allem auch emotional diskutierte Themen wie Zuwanderung, Gesundheitskosten oder Kaufkraft prägten den öffentlichen Diskurs im Wahljahr und rückten das Klima in den Hintergrund.

Sie sprechen von einer «Stabilitätswahl». Verändert sich die Energiepolitik unter dem neuen Parlament?

Das ist schwierig abzuschätzen. Im Parlament haben wir weiterhin die beiden Pole, die sich in vielen Fragen konträr gegenüberstehen. Das rechtskonservative, bürgerliche Lager hat insgesamt bei den Wahlen zugelegt, ist aber klar von einer Mehrheit entfernt. Vieles wird also wie bis anhin von der gestärkten Mitte abhängen, und diese ist nicht bekannt für eine rechtsbürgerliche Energiepolitik. Was wir in den Befragungen deutlich sehen, ist, dass die Bevölkerung Lösungen erwartet. Die Energiewende voranzutreiben, wird als zentrale Aufgabe des neuen Parlaments gesehen. Wichtiger ist nur, die steigenden Gesundheitskosten in den Griff zu kriegen.

Die Bevölkerung möchte mehr Tempo bei der Energiewende. Trotzdem fehlt oft Akzeptanz beim Ausbau der erneuerbaren Energie. Warum?

Im Grundsatz besteht eine hohe Akzeptanz für die erneuerbaren Energien und deren Ausbau. Im Einzelfall zeigen sich aber unterschiedliche Konfliktlinien, die es schon länger gibt und die bleiben werden. Seien es Kosten, die das eigene Portemonnaie belasten, Widerstand aus dem grün-ökologischen Lager oder rechtskonservative Opposition etwa in Form des Landschaftsschutzes, die die Heimat partout nicht verbaut sehen will. Sie bleiben Stolpersteine für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir sehen auch immer wieder in verschiedenen Abstimmungen, dass Verbote in der Regel auf wenig Zustimmung stossen.

Urs Bieri ist Politikwissenschafter und seit 2016 Co-Leiter des Politik- und Kommunikationsforschungsinstitut gfs.bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Wahlen und Abstimmungen.

Könnte demnach auch das Neubauverbot für Kernkraftwerke fallen?

Die Diskussion wird wegen der Initiative «Blackout stoppen» zu führen sein, sollte sie zustande kommen, wonach es aussieht. Die Kernenergie hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Die Zeiten, in denen die Kernkraft als gloriose Technologie verehrt wurde, sind seit gut 50 Jahren passé. Die Bevölkerung hat deutlich für den Atomausstieg gestimmt und steht weiter hinter diesem Entscheid. Ein Neubauverbot würde man erst dann in Erwägung ziehen, wenn entweder die Versorgungssicherheit ernsthaft und im Alltag spürbar gefährdet wäre oder neue Technologien grosse Fortschritte in Bezug auf Sicherheit, Lagerung und Abbau bringen würden.

Wirken sich die steigenden Strompreise negativ auf die Zustimmung zur Energiestrategie aus?

Eine sichere Stromversorgung geniesst gemäss unseren Umfragen eine höhere Priorität als die Energiekosten. Steigen diese weiter, könnten sie aber durchaus zu einem Faktor werden. Die Lebenserhaltungskosten steigen generell in verschiedenen Bereichen an – Mieten, Krankenkassen, Lebensmittel. Wenn neue verteuernde Massnahmen zusätzliche Kosten verursachen, die zu den sowieso schon hohen Fixkosten dazu kommen, dann könnte die Zustimmung darunter leiden.

Schon bald dürfte der Bund mit der EU über ein Stromabkommen verhandeln. Wie stehen die Chancen in der Bevölkerung?

Die bilateralen Beziehungen sind eine Erfolgsgeschichte. Die Bevölkerung ist sich bewusst, dass diese Verträge der Schweiz Wohlstand gebracht haben und dass die Beziehungen zur EU zunehmend erodieren und deshalb weiterentwickelt werden müssen. Ob die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ein Stromabkommen annehmen würden, wird sowohl vom Rahmen – sprich den institutionellen Fragen wie Lohnschutz oder Streitbeilegung – als auch vom Energieabkommen selbst abhängen. Die Liberalisierung des Strommarktes zum Beispiel könnte Misstrauen auslösen. Sie hat es sicher nicht einfacher seit der Energiekrise, weil man gesehen hat, wie die Verbraucher auf dem Markt unter den Rekordpreisen ächzten. In der Abwägung könnten diese Liberalisierungsvorbehalte den Nutzen eines Stromabkommens für die Versorgungssicherheit relativieren.