Das Risiko ist real und gross

Strommangellage | Der Schweiz droht ein heisser ­respektive kalter Winter. Die Zuversicht, dass das Land nicht in eine Mangellage gerät, ist zwar vorhanden, doch nach dem Winter ist vor dem Winter.
15.12.2022
Bild: ahafid/pixabay

Wer die Möglichkeit hat, mit Holz zu heizen, tat gut daran, sich bereits im Sommer mit ausreichend Brennmaterial einzudecken, auch wenn Händler damals zuversichtlich verkündeten, die Nachfrage decken zu können. «Wir haben vor Kurzem den Bestand eines anderen Händlers übernommen und haben mehr als genügend Vorräte», erklärte eine Händlerin aus dem solothurnischen Bezirk Wasseramt Mitte Juli auf Anfrage. Nur sechs Wochen später war auf ihrer Website zu lesen, dass Brennholz erst ab Anfang Januar 2023 wieder lieferbar sei. Es haben sich – den hohen Temperaturen zum Trotz – also schon viele Menschen im Sommer Gedanken über die kalte Jahreszeit gemacht. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn wer sorgt sich in kurzen Hosen und T-Shirt schon um Heizfragen? Gleichzeitig verdeutlicht es aber auch, dass ein Umdenken stattgefunden haben muss.

Während der letzten drei bis vier Dekaden lebten Gesellschaft und Wirtschaft in wohl noch nie dagewesener Energieversorgungssicherheit, und das zumeist zu tragbaren Preisen. Entsprechend rangierte die Versorgungssicherheit auf dem Sorgenbarometer – wenn überhaupt – eher auf den unteren Rängen. Das ungebremste Verbrennen fossiler Energieträger erfolgte dabei jedoch nicht nur wider besseren Wissens, sondern auch ungeachtet deren teilweise problematischer Herkunft aus autoritären Staaten. Dass eine solche Abhängigkeit fatal sein kann, lernten die Schweiz und Europa spätestens am 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine attackierte. Schlagartig wurde den europäischen Staaten damals bewusst, wie Russland ihre, in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene und zum Teil auch bewusst geförderte, Energieabhängigkeit für seine geostrategischen Interessen nutzt. Weltweit gegen den Aggressor ergriffene Wirtschaftssanktionen haben die russischen Quellen für fossile Energien für Europa zum Versiegen gebracht, und das in einer Situation, in der das Schreckgespenst einer Strommangellage schon länger für eine breite Öffentlichkeit gut sichtbar herumgeisterte. Die zuvor kaum in Frage gestellte Versorgungssicherheit durch Gas und Erdöl aus Russland war somit buchstäblich über Nacht der Ungewissheit gewichen, wie Europa im Winter 2022/23 heizen soll.

Eine ausserordentliche Lage mit schwerwiegenden Auswirkungen

Eine Strommangellage ist kein neuartiges Szenario, welches aus einer aktuellen Entwicklung heraus hätte erstellt werden müssen. Eine Strommangellage ist vielmehr eine ausserordentliche Lage, die in der Schweiz glücklicherweise noch nie eingetreten ist, die im Eintretensfall aber massive Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft hätte und der die Elektrizitätsbranche und der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) im Sinne einer umsichtigen Vorsorgestrategie daher schon sehr lange grosse Aufmerksamkeit beimessen. Vom Bund beauftragt, notwendige Vorbereitungsmassnahmen zu treffen, hat der VSE dazu Ostral (Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen) ins Leben gerufen, und zwar schon vor über 30  Jahren und als direkte Nachfolgeorganisation der einstigen Kriegsorganisation für Elek­trizitätswerke (KOEW).

Wird der Strom knapp, darf nur noch auf 18 °C geheizt werden. (Bild: geralt/pixabay)

Oft werden die Begriffe «Blackout» und «Strommangellage» synonym verwendet. Das ist falsch, denn dabei handelt es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Dinge: Bei einem Blackout führen ein oder mehrere unerwartete Ereignisse dazu, dass Stromangebot und -nachfrage nicht mehr ausgeglichen sind. Dadurch kann es zu einer unkontrollierbaren Netzsituation mit anschliessendem Zusammenbruch des Stromnetzes kommen. In einer Strommangellage hingegen kann erwartungsgemäss das Angebot an elektrischer Energie die Nachfrage nicht mehr decken. Es ist also nicht genügend Strom vorhanden, und zwar während mehrerer Tage, Wochen oder sogar Monate. Normalerweise sorgen Stromproduzenten und Netzbetreiber dafür, dass minutengenau so viel Strom zur Verfügung steht, wie Verbraucher nachfragen.

In einer Strommangellage müssen Massnahmen wie Verbrauchseinschränkungen und -verbote, Stromkontingentierungen oder kontrollierte rollierende Netzabschaltungen von Teilnetzen ergriffen werden, damit die Strommangellage nicht zu einem totalen grossflächigen Systemausfall führt. Zu einer Mangellage können verschiedene Einflussfaktoren führen. Denkbar wäre ein Szenario mit einer Verkettung verschiedenster Faktoren: Ein trockener Sommer führt zu unzureichend gefüllten Stauseen in der Schweiz. Im darauffolgenden langen, kalten Winter hat es wenig Wind und Sonne, und zusätzlich fallen im benachbarten Ausland mehrere Kernkraftwerke aus, sodass keine ausreichenden Stromimporte in die Schweiz mehr möglich wären.

Es ist «normal», dass der Strom da ist, wenn man ihn braucht

Eine Strommangellage ist ein Szenario, welches sich viele Menschen in der Schweiz gar nicht vorstellen können. Zu zuverlässig arbeiten seit Jahrzehnten sowohl die Netzinfrastruktur als auch die grossen Produktionsanlagen und deren Betreiber. Für die meisten Verbraucher ist es schlicht «normal», dass der Strom da ist, wenn sie ihn brauchen. Massnahmen wie rollierende Netzabschaltungen oder Stromkontingentierungen für Grossverbraucher scheinen surreal und werden eher in einen dystopischen Science-Fiction-Roman denn in die gut organisierte Schweiz verortet. Und trotzdem ist das Risiko gerade in der aktuellen Situation real und gross. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) kam 2020 in seiner Risikoanalyse zum Schluss, dass eine solche Strommangellage das grösste Risiko für die Schweiz darstelle, noch vor dem Risiko einer globalen Pandemie wie Covid-19. Im Herbst 2021 ist der Begriff der Strommangellage auch in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit geraten. Damals hatte Ostral den rund 30 000  Grossverbrauchern in der Schweiz empfohlen, sich für den Eintretensfall vorzubereiten. Schon zu jenem Zeitpunkt – also noch vor Russlands Angriff auf die Ukraine – schätzten Branche und Bund das Risiko einer Strommangellage als real und gross ein.

Wegen des Krieges in der Ukraine droht in diesem Winter auch beim Gas eine Mangellage. (Bild: PublicDomainPictures/pixabay)

Eine Strommangellage ist oftmals die Summe einer Verkettung von Ereignissen. Würde es beispielsweise in diesem Winter sehr kalt, was einen erhöhten Energieverbrauch zum Heizen zur Folge hätte, brächte Électricité de France (EDF), entgegen ihren Absichten , nicht alle ihre Kernkraftwerke bis Februar wieder ans Netz und fielen zusätzlich auch noch mehrere Kraftwerke in der Schweiz aus – beispielsweise wegen eines Cyber-Angriffs – könnte dies zu einer Strommangellage führen. In diesem Satz ist Vieles im Konjunktiv formuliert, zugegeben. Aber jeder Konjunktiv hat eine gewisse Eintretenswahrscheinlichkeit, und diese gilt es bei der Risikoabschätzung zu berücksichtigen. Als Erstes wäre da die Witterung. Zwar waren der Winter 2021/22 und der Frühling 2022 deutlich wärmer als in der Vergleichsperiode 1990–2020 , aber der Frühling 2021 war gegenüber der Vergleichsperiode 1981–2010 um 1,1 °C kühler gewesen . Es handelte sich laut MeteoSchweiz sogar um den kühlsten Frühling seit 30  Jahren mit etlichen Frosttagen in den Monaten März und April. Auch wenn die Tendenz eher auf mildere Winter hinweist, sind Kälteperioden nach wie vor wahrscheinlich. Im Januar oder Februar wäre es also noch zu früh, um aufzuatmen.

Importmöglichkeiten schwinden

Wie steht es um die Kernkraftwerke in Frankreich (und Deutschland)? Die Schweiz ist während der kalten Jahreszeit auf Stromimporte aus Deutschland und Frankreich angewiesen. Deutschland wollte per Ende 2022 seine letzten drei Kernkraftwerke (Emsland, Isar 2 und Neckarwest­heim 2) vom Netz nehmen, betreibt diese nun aber bis längstens am 15. April 2023 weiter. Danach sollen die deutschen Meiler endgültig abgeschaltet werden. Ungewisser ist die Situation in Frankreich: Politisch motivierter Beteuerungen von EDF und aus dem Élysée in Paris zum Trotz, ist es fraglich, ob Frankreich in diesem Winter in einem Masse Strom produzieren kann, damit auch allfällige Bedürfnisse aus der Schweiz gedeckt werden könnten. Noch im Sommer waren über die Hälfte der 56 französischen Kernkraftwerke nicht am Netz. Die stolze Stromexportnation musste sogar elektrische Energie importieren. Zwar sollen bis im Februar alle Reaktoren wieder am Netz sein und Strom produzieren. Experten zeigen sich von diesem Fahrplan jedoch alles andere als überzeugt, nicht nur, weil er unter politischem Druck entstanden ist, sondern auch, weil in den vergangenen Monaten gemachte Ankündigungen regelmässig revidiert werden mussten. Diese Quellen sind für die Schweiz also alles andere als gesichert. Da spielt es auch eine untergeordnete Rolle, dass mit beiden Ländern Verträge über Stromlieferungen bestehen. Schon während der Covid-Pandemie hat sich in der Causa um in Deutschland blockierte Hygiene-Masken schliesslich gezeigt, dass in Extremsituationen jeder Staat zuerst für sich schaut. Oder frei nach Berthold Brecht: «Erst kommt das Fressen, dann die Moral.»

Wer selbst elektrische Energie produziert und dazu noch mit Holz heizen kann, ist im Vorteil. (Bild: Antranias/pixabay)

Bleibt noch das Thema Cyber-Angriffe respektive Cyber-Security. Die Sicherheit ist im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung ein zentraler Punkt beim Umbau des Energiesystems. Im Gleichschritt dazu nehmen Cyber-Bedrohungen wie Erpressung, Wirtschaftsspionage oder Intrusion im staatlichen Auftrag zu. Werden kritische Infrastrukturen wie die Übertragungs- und Verteilnetze oder grosse Produktionsanlagen nicht adäquat vor solchen Angriffen geschützt, kann das fatale Auswirkungen haben. Der Energiebranche ist die Wichtigkeit dieses Themas bewusst, vor allem aufgrund aufsehenerregender Fälle wie beispielsweise der 2015/16 lahmgelegten Stromversorgung in der Ukraine oder dem Erpressungsversuch von Colonial Pipeline in den USA im Mai 2021. Energieversorger unternehmen mittlerweile entsprechende Schritte zur Stärkung ihrer Cyber-Sicherheit und vor allem zur Ausbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dennoch gilt: Die absolute Sicherheit gibt es auch in diesem Bereich nicht. Und angesichts der geopolitischen Entwicklung und den gut dokumentierten Tätigkeiten ganzer Hacker-Armeen zumeist russischer und chinesischer Provenienz muss davon ausgegangen werden, dass autoritäre Staaten nicht davor zurückschrecken, Cyber-Angriffe und digitale Desinformationskampagnen im grossen Stil einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen.

Relativierung, aber keine Entwarnung

Es handelt sich also um Szenarien, die zwar extrem sind, die aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durchaus gemeinsam eintreten könnten. Zwar relativierte das BFE Anfang November das Risiko für eine Strommangellage aufgrund einer Studie der Swissgrid minim, eine Entwarnung ist das aber mitnichten. Die Gasspeicher in Deutschland, von wo die Schweiz ihr Gas hauptsächlich bezieht, mögen zwar annähernd voll sein, doch wie wird es im Winter 2023/24 aussehen? Und woher soll das Gas dannzumal kommen? Denn Russland wird für die meisten europäischen Nationen keine Alternative mehr sein, egal, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Wie Zukunftsforscher Matthias Horx darlegt, dürfte Russland im Bestreben um die Aufrechterhaltung seines fossilen Geschäftsmodells mit diesem Krieg dem Ausbau der Produktion aus erneuerbaren Energien und damit dem tatsächlichen Umbau des Energiesystems in der Schweiz und in Europa sogar den seit Langem benötigten Schwung verliehen haben.

Der Bund hat im Herbst eine Energiespar-Aktion lanciert, um einer möglichen Mangellage niederschwellig entgegenzuwirken. (Bild: Uvek)

Branche und Bund bereiten sich vor, aber alle müssen einen Beitrag leisten

So viel zur Zukunftsmusik. Im Hier und Jetzt wird es weiterhin auf das Verhalten jedes einzelnen Verbrauchers ankommen. Die Energiesparkampagne des BFE, welche im September lanciert worden ist, blieb zumindest bis im November ohne nennenswerte Wirkung. Umso wichtiger wird daher das Verhalten während der kommenden Wintermonate sein. Der sorgsame und sparsame Umgang mit Energie ist zentral, um das Risiko einer Strommangellage zu minimieren. VSE, Branche und Bund nehmen die Situation ernst und bereiten sich seit Monaten auf eine mögliche ausserordentliche Lage vor, und zwar in der Hoffnung, dass diese nie eintreten werde und dass all diese Vorbereitungen letztlich unnötig gewesen sein werden. Alle Tests und Übungsanlagen von Ostral, BWL (Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung), BFE und der Energiebranche, alle Konzepte und Prozesse, welche entwickelt wurden und werden, sowie alle bereits ergriffenen Massnahmen sollen das Schlimmste verhindern. Das geht aber nur gemeinsam: Alle sind nun gefordert, weiterhin einen Beitrag zu leisten; und sei es bloss, die nicht gebrauchte Kaffeemaschine auszuschalten, das Licht in Räumen zu löschen, in denen sich niemand aufhält oder zu duschen statt zu baden ...