Den Kulturschock überwunden

03.08.2023
«Ich hätte mir nach dem Gymnasium nie vorstellen können, Physik zu studieren, in einem Kernkraftwerk zu arbeiten und in einem Land zu leben, in dem Deutsch gesprochen wird», sagt Alexandra Ålander, Physikerin, Ressortleiterin Out of Core beim Kernkraftwerk Gösgen.
Alexandra Ålander, Physikerin, Ressortleiterin Out of Core beim Kernkraftwerk Gösgen. (zVg)

Dass Alexandra Ålanders Lebensweg sie dahin geführt hat, wo sie heute ist, hat viel mit dem Zeitalter der Entdeckungen sowie den hellen Köpfen dieser Zeit zu tun: «Nach dem Gymnasium in Stockholm verbrachte ich einige Jahre in den französischen Alpen, wo ich hauptsächlich Ski gefahren bin. Quasi nebenbei studierte ich Französisch und Philosophie.» Im Rahmen der Geschichte der Philosophie begann sie auch, sich mit der Geschichte der Wissenschaft auseinanderzusetzen und stiess dabei auf grosse Gelehrte wie Johannes Kepler und Nikolaus Kopernikus. «Ich fand es wahnsinnig spannend, wie diese Männer damals das Universum zu erforschen begannen, und ich entdeckte die Astrophysik für mich.»

Weil Astrophysikerinnen ausserhalb der akademischen Sphäre aber nicht besonders gesucht sind, beschloss Alexandra Ålander, stattdessen an der Königlich technischen Hochschule KTH in Stockholm Physik zu studieren. Als es nach drei Jahren darum ging, einen Schwerpunkt für das weitere Studium zu benennen, entschied sich Alexandra Ålander für die Reaktorphysik. Den Ausschlag dazu hatte ein Besuch im Kernkraftwerk Forsmark gegeben: «Ich erkannte einen praktischen Anwendungsbereich für die eher theoretische Materie.»

Women in Power

In einem Meinungsbeitrag vom 8. März 2023 – dem Weltfrauentag – hat Nadine Brauchli, Leiterin Energie beim VSE und Mitglied der Geschäftsleitung, Frauen aufgerufen, in die Energiebranche einzutauchen. In einer losen Serie stellt der VSE unter dem Titel «Women in Power» Frauen vor, die diesem Aufruf nicht mehr Folge leisten müssen, weil sie bereits eingetaucht sind und erfolgreich in den verschiedensten Bereichen der Energiewelt arbeiten.

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Brennelemente statt Baustelle

Die frischgebackene Reaktorphysikerin hatte nach Abschluss ihres Studiums viel vor: «Ich wollte neue Kernkraftwerke bauen. Deshalb bewarb ich mich beim französischen Kerntechnikkonzern Framatome – der damals noch Areva hiess – in Frankreich und Deutschland.» In Deutschland klappte es mit einer Stelle, allerdings nicht beim Bau von Kernkraftwerken, sondern in der Abteilung Brennelemente bei der damaligen Areva in Erlangen bei Nürnberg. «Das war meine erste Anstellung nach dem Studium. Und das in einem deutschsprachigen Land, und obwohl ich kein Wort Deutsch sprach.»

Während der drei Jahre in Deutschland hat Alexandra Ålander nicht nur Deutsch gelernt, sondern auch ihren Partner kennengelernt. Weil dieser bei ABB in der Schweiz arbeitete und das Pendeln mühsam war, siedelte sie Ende 2008 um; allerdings nicht ohne Wehmut: «Areva war der Arbeitgeber gewesen, für den ich seit dem Studium immer arbeiten wollte.» Die Liebe war es ihr aber wert gewesen, ins nächste mehrheitlich deutschsprachige Land zu ziehen und bei Alstom eine neue Stelle anzunehmen.

Als Ressortleiterin «Out of Core» ist Alexandra Ålander für alles zuständig, was in den Kern der Anlage hineingelangt und was wieder herauskommt. (zVg)

Schweden und Schweiz – Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Obwohl Schweden und die Schweiz gerne mal verwechselt werden, unterscheiden sich die Mentalitäten der jeweiligen Bevölkerung in vielen Punkten. Die Physikerin spricht denn auch von einem veritablen Kulturschock, den sie in der Schweiz erlebt habe: «Als ich das erste Mal Altglas rezyklieren wollte, hatte ich mir dafür dummerweise einen Sonntag ausgesucht; das hatte Folgen.» Nichtsahnend sei sie zur Sammelstelle gefahren, «ich hatte damals noch deutsche Nummernschilder», und als sie begonnen habe, Glas in die Sammelbehälter zu werfen, sei ein Mann aus einem Haus in der Nähe gestürmt und hätte sie angeschnauzt, ob sie nicht lesen könne. «Ein älterer Passant wollte ausserdem mein Nummernschild fotografieren und mich der Polizei melden.»

«Damals frage ich mich, wo ich denn hier bloss gelandet sei. Ich dachte, dass ich hier nicht leben könne. Doch heute bin ich selbst so und finde es super.» Als sie vor einigen Wochen zum Mittsommerfest in Schweden war, hätten Nachbarn um 10 noch den Rasen gemäht, am Abend! «Mein Partner und ich haben uns darüber aufgeregt, aber meine Eltern haben uns nur fragend angesehen, als wir ihnen etwas von ‹Ruhezeit› erzählen wollten.» Diese Anpassung an die Schweizer Mentalität brauchte jedoch ihre Zeit: «Ich weiss noch immer ganz genau, wann ich mich erstmals richtig integriert fühlte in der Schweiz: Nach vier Jahren in diesem Land wurde ich erstmals bei einer Schweizer Familie zum Essen eingeladen.» In diesem Punkt würden sich die Schweizer und die Schweden hingegen nicht gross unterscheiden, denn auch in ihrem Heimatland liessen die Menschen Fremde nicht so schnell an sich heran.

Integration auf vier Beinen

Bei der Integration geholfen habe auch ihr Pferd Bella. «So musste ich Deutsch lernen, um mit den Menschen im Stall und den anderen Reitern kommunizieren zu können.» Wenn man in einem internationalen Konzern wie Alstom oder ABB arbeitet, sei die Verkehrssprache in der Regel Englisch. Da könne man 20 oder 30 Jahre in der Schweiz leben, ohne sich wirklich integrieren zu müssen. «Mein Partner spielt Eishockey und hat sich auf diese Art integriert. Uns gefällt es sehr gut in der Schweiz, und wir möchten uns dereinst gerne einbürgern lassen.» Sie liebe das Leben auf dem Land und könnte nicht mehr in einer Millionenstadt wie Stockholm leben, sagt Alexandra Ålander.

Nach einer Station bei Studsvik kam Alexandra Ålander 2014 zum Kernkraftwerk Gösgen. Als Ressortleiterin «Out of Core» ist sie für alles zuständig, was in den Kern der Anlage hineingelangt und was wieder herauskommt. Zu ihren Aufgaben gehören damit vor allem das Vertragswesen für die Beschaffung von Uran für neue Brennelemente sowie das Verpacken, Transportieren und die Lagerung der verbrauchten Brennelemente. Dafür, dass sie die Physik praktisch anwenden wollte, hören sich diese Aufgaben reichlich administrativ an. «Das stimmt schon bis zu einem gewissen Grad. Aber um all diese Vorgänge sicher und störungsfrei abwickeln zu können, sind profunde physikalische und technische Kenntnisse notwendig. Ich muss mir beispielsweise Gedanken darüber machen, wie das Material beim Transport und unter welchen Bedingungen und Umständen reagieren könnte.»

Alexandra Ålander liebt ihre Arbeit und geht in ihr auf, das erkennt man im Gespräch mit ihr schnell einmal. Aufgrund der 2017 vom Stimmvolk angenommenen Energiestrategie 2050 und dem darin festgehaltenen Ausstieg aus der Kernenergie ist ihr Betätigungsfeld – Stand heute – aber ein Auslaufmodell. Wie geht die Reaktorphysikerin damit um, dass das Eidgenössische Nuklearinspektorat ENSI irgendwann einmal die Abschaltung des Kernkraftwerks Gösgen anordnet? «Wir rechnen hier in Gösgen mit 60 Jahren Betriebsdauer. Und da ich voraussichtlich noch 15 Jahre arbeiten muss, bis ich pensioniert werde, geht das in meinem Fall ziemlich gut auf. Und ich hoffe, dass es bis dahin auch wieder Aussicht auf neue Kernkraftwerke in der Schweiz gibt.»