Verbindliche Ausbauziele, Solaroffensive, Grimsel-Erhöhung

In der Herbstsession der eidgenössischen Räte dominierte die Energiepolitik. Viele für die Versorgungssicherheit bedeutende Vorlagen wie der Mantelerlass waren traktandiert. Es wurde diskutiert, gefeilt und entschieden. Noch ist aber nicht aller Tage Abend. Das Wichtigste im Überblick.
05.10.2022

Mantelerlass: positive Entscheide im Sinne der Versorgungssicherheit

Der Ausbau der erneuerbaren Energien im Inland soll schneller vonstattengehen. So will es der Ständerat. Er verankert im Mantelerlass – der Revision der Energiegesetzes und des Stromversorgungsgesetzes – verbindliche Ausbauziele, die notabene deutlich höher sind als jene des Bundesrats. Die Wasserkraft soll 37.9 Terawattstunden bis 2035 und 39.2 Terawattstunden bis 2050 liefern. Die Richtwerte für die übrigen Erneuerbaren betragen 35 Terawattstunden bis 2035 und 45 Terawattstunden bis 2050. Für die Stärkung der Winterstromversorgung soll bis 2040 ein Zubau von Kraftwerken zur Erzeugung von erneuerbarer Energie von mindestens 6 Terawattstunden realisiert werden, wovon mindestens 2 Terawattstunden sicher abrufbar sein müssen.

Wie diese Ziele erreicht werden sollen, ist noch unklar. Denn über die Rahmenbedingungen, wie die dafür notwendigen Produktionskapazitäten realisiert werden sollen, herrscht noch Uneinigkeit. Zielkonflikte zwischen Stromversorgungssicherheit und Umweltschutz sind weiterhin ungelöst, obschon die Erreichung der Ausbauziele zum nationalen Interesse erklärt wird. So soll zum Beispiel die Realisierung der 15 Wasserkraftprojekte des Runden Tisches anderen nationalen Interessen vorgehen.

Betreffend Stromnetz entscheidet der Ständerat, das Messwesen (ebenso wie den Strommarkt) nicht zu liberalisieren. Stattdessen will er mit der Schaffung lokaler Elektrizitätsgemeinschaften den Austausch von Elektrizität und damit eine Aufweichung des Monopols lokal ermöglichen. Mit einem Zufallsmehr hat der Ständerat eine Definition des Kapitalkostensatzes (WACC) ins Gesetz aufgenommen, gemäss welcher der WACC für Eigenkapital im Rahmen internationaler Vergleichswerte liegen und derjenige für Fremdkapital den jeweils aktuellen Marktgegebenheiten entsprechen muss.

Schliesslich spricht sich der Ständerat dafür aus, dass im Winter als Richtwert nicht mehr als 5 Terawattstunden importiert werden soll. Für die Bildung von Energiereserven zur Überbrückung von Versorgungsengpässen, wie sie für diesen Winter auf Verordnungsweg bereits umgesetzt wurden, wird nun eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Die wichtigsten Beschlüsse zum Mantelerlass im Überblick.

Der Mantelerlass ist die entscheidende Vorlage, um die Weichen für die kurz-, mittel- und langfristige Versorgungssicherheit zu stellen. Der VSE befasst sich schon lange mit der Versorgungssicherheit und nennt in seiner Roadmap die aus seiner Sicht notwendigen Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Sie müssen unter anderem im Mantelerlass Berücksichtigung finden. Zum Teil tun sie das auch. Der Ständerat hat viele positive Entscheide im Sinne der Versorgungssicherheit getroffen.

Zentrale Konflikte zwischen Schutz und Nutzung bleiben jedoch ungelöst. Es gilt, die Rahmenbedingungen so zu schaffen, dass die für die definierten Ausbauziele notwendige erneuerbare Energieinfrastruktur tatsächlich realisiert werden kann. Dazu zählen auch günstige Rahmenbedingungen für die Netze, der Lebensader der Stromversorgung, die die Basis für die wandelnden Anforderungen des Energiesystems legen müssen und zu diesem Zweck erhalten, modernisiert/digitalisiert und wo nötig ausgebaut werden müssen. Eine Senkung des WACC wäre dafür ein verheerendes Signal und würde Investitionen in den benötigten Umbau der Netze hemmen. Auch besteht Nachholbedarf insbesondere im Bereich der Netztarifierung, welche durch die Ausweitung von Eigenverbrauchslösungen nur umso dringlicher wird.

Die Vorlage geht als nächstes in die Energiekommission des Nationalrats. Der VSE wird den Prozess weiterhin eng verfolgen und sich mit seiner Roadmap in die Diskussionen einbringen.

Solaroffensive & Grimsel: Balanceakt zwischen Schutz und Nutzung

Im Eiltempo haben die Räte dringliche Massnahmen zur kurzfristigen Sicherstellung der Stromversorgung im Winter beschlossen. Kern der Vorlage ist eine Solaroffensive. Einerseits sollen jahrelang blockierte Solarprojekte in den Bergen durch eine erleichterte Bewilligung und Investitionsbeiträge realisiert werden können. Einen Freipass für alpine PV-Anlagen ist dies aber nicht, da Solaranlagen nicht überall zugelassen werden und eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig bleibt. Die Versorgungssicherheit hat in der Interessenabwägung keinen absoluten, aber einen grundsätzlichen Vorrang. Die erleichterten Bedingungen für diese alpinen PV-Anlagen gelten, bis eine Jahresproduktion von zwei Terawattstunden erreicht ist. Andererseits gilt ab 2023 eine Solarpflicht für Neubauten mit einer Gebäudefläche von mehr als 300 Quadratmetern. Rund 70 Prozent der Gebäude sind nicht davon betroffen. Es sei denn, die Kantone beschliessen auch für diese eine Pflicht.

Neben der Solaroffensive wird im Gesetz auch die Grimsel-Staumauererhöhung um 23 Meter festgeschrieben. Über die Erhöhung der Staumauer wird seit über 20 Jahren gestritten. Die vorgesehene Erhöhung würde die Kapazitäten des Speichersees verdoppeln. Die Vorlage tritt am 1. Oktober in Kraft. Die Bestimmungen gelten bis Ende 2025 und sollen dann vom Stromversorgungsgesetz (in Revision im Rahmen des Mantelerlasses) abgelöst werden.

Parallel zur Solaroffensive erarbeitet die UREK-N eine Vorlage, die analoge Massnahmen für gewisse Windkraftwerke und das Projekt Trift vorsieht. Viele Windenergieprojekte sind derzeit wegen jahrelanger Verfahren blockiert. Die Vorlage sieht vor, dass Windprojekte von nationalem Interesse, die über eine rechtskräftige Nutzungsplanung verfügen, keine Baubewilligung mehr brauchen. Dadurch würden weitere Beschwerdemöglichkeiten entfallen und die Projekte wären sofort realisierbar.

Alpine PV-Anlagen, Wasserkraft und Windenergie sind der zentrale Baustein für eine ausreichende Winterstromproduktion. Der VSE fordert schon lange eine Verbesserung der Bewilligungsfähigkeit dieser Projekte, namentlich, indem die Verfahren beschleunigt und gebündelt werden. Der VSE begrüsst daher die Beschlüsse als pragmatischen Weg, um zügig Winterstrom zubauen zu können. Wie sich die Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzung auf die Realisierung der Projekte auswirkt, muss nun jedoch die Praxis zeigen. Aus Sicht des VSE muss im Zweifel die Versorgungssicherheit vorgehen. Entscheidend ist, dass die Projekte tatsächlich vorankommen und das PV-Potenzial auf bestehenden Dächern, Fassaden und Infrastrukturen rasch und unbürokratisch genutzt werden kann. Der «Grimsel-Paragraf» ist ein wichtiges Signal für die Wasserkraft, da Stauseen heute die einzige Möglichkeit sind, Strom saisonal für den Winter zu speichern.

Weitere Entscheide

Biodiversitätsinitiative: Qualität vor Quantität im indirekten Gegenvorschlag

Der Nationalrat beendet als Erstrat die Beratung der Biodiversitätsinitiative und des indirekten Gegenvorschlags auf Gesetzesstufe. Das Volksbegehren lehnt er ab, befürwortet dafür eine Revision des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz (NHG). Diese zielt darauf ab, die Qualität der bereits ausgeschiedenen Biodiversitätsflächen zu verbessern, indem zum Beispiel Schutzgebiete untereinander vernetzt werden sollen. Das vom Bundesrat vorgeschlagene Flächenziel von 17 Prozent strich der Nationalrat aus der Vorlage. Das Geschäft geht nun an die UREK-S und anschliessend in den Ständerat.


Der VSE begrüsst die Stossrichtung «Qualität vor Quantität» der vom Nationalrat vorgenommenen Änderungen am indirekten Gegenvorschlag. Eine Ausweitung der Schutzgebiete stünde stark im Konflikt mit der Umsetzung der Energie- und Klimastrategie, denn auch eine erneuerbare Energieversorgung ist nicht ohne Eingriffe in die Umwelt und Landschaft möglich. Sie ist jedoch ein wesentliches Fundament des Klimaschutzes. Und Massnahmen zum Klimaschutz stellen wiederum die Grundlage für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und damit auch der Biodiversität dar. Es braucht daher eine übergeordnete Güterabwägung zwischen verschiedenen Schutz- und Nutzungsinteressen aus gesamtgesellschaftlicher Sicht, wobei die Nutzungsinteressen aus Sicht des VSE mindestens vorübergehend höher zu gewichten sind. Als bedenkliches Signal muss dabei gewertet werden, dass trotz Gegenvorschlags 72 Nationalrätinnen und Nationalräte dem Volk die Initiative zur Annahme empfehlen (101 waren für Ablehnung, 19 enthielten sich ihrer Stimme).

Gletscherinitiative / Klima: Milliardenkredit für ambitionierte Reduktionsziele

Der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative ist unter Dach und Fach. Das Gesetz sieht bis 2040 eine Reduktion der CO2-Emissionen um 75 Prozent gegenüber 1990 vor. Und dies so weit als möglich mit Massnahmen im Inland. Verbindliche, ambitionierte Zwischenziele soll es auch für die verschiedenen Sektoren wie Gebäude, Verkehr und Industrie geben. Zudem müssen Bund und Kantone spätestens bis 2050 Speicher für Kohlestoff im In- und Ausland bereitstellen, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. National- und Ständerat bewilligten als Sofortmassnahme 3,2 Milliarden Franken, die den Ersatz fossiler Heizungen und Sanierungen sowie die Förderung zu Gunsten neuer Technologien unterstützen sollen. Das Komitee der Gletscherinitiative kündigte den bedingten Rückzug des Begehrens an – bedingt, weil das Referendum gegen den indirekten Gegenvorschlag ergriffen werden dürfte.

Der indirekte Gegenvorschlag stellt einen Zwischenschritt nach der Ablehnung der letzten CO2-Gesetz-Revision an der Urne im Mai 2021 dar. Er soll die Ziele für 2030 stecken und erste Massnahmen zu deren Erreichung vorgeben, bis die nächste «grosse» Revision in Kraft treten kann. Der Bundesrat hat dazu Mitte September die Botschaft an das Parlament verabschiedet.


Der VSE anerkennt und unterstützt das Ziel der Klimaneutralität ab 2050 – und damit auch die oben genannten Beschlüsse des Parlaments. Alle Verbrauchssektoren, also Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft, müssen gleichermassen zur Senkung der CO2-Emissionen beitragen. Voraussetzung für die Klimaneutralität bildet der massive Ausbau der erneuerbaren Energien. Zur Dekarbonisierung in allen Sektoren braucht es neben der Elektrifizierung die Sektorkopplung, in deren Rahmen sich die Energieträger Strom, Gas und Wärme in den Sektoren Gebäude, Industrie und Verkehr koppeln werden.

Rettungsschirm: Subsidiäre Finanzhilfen in Form von Darlehen

Der Bundesrat soll systemrelevanten Stromunternehmen, die wegen den rekordhohen Marktpreisvolatilitäten in Liquiditätsengpässe geraten, subsidiäre Finanzhilfen in Form von Darlehen gewähren können. Dies, um Dominoeffekte zu verhindern, die die Versorgungssicherheit gefährden könnten. Ähnliche Stützungsmassnahmen hat auch das benachbarte Ausland beschlossen. Es besteht kein Rechtsanspruch auf die Finanzhilfen des Bundes, die gesamthaft 10 Milliarden Franken umfassen. Die Darlehen müssen marktgerecht verzinst werden, es wird ein Risikozuschlag fällig, und während der Inanspruchnahme des Darlehens dürfen weder Boni noch Dividenden ausbezahlt werden. Der Rettungsschirm tritt am 1. Oktober dringlich in Kraft. Die Axpo kann auf die Unterstützung des Bundes zählen. Der Bundesrat hatte ihr bereits am 6. September auf dem Verordnungsweg einen Kreditrahmen von bis zu 4 Milliarden Franken gewährt – also vor der Verabschiedung des Bundesgesetzes durch das Parlament.


Ausserordentliche Marktentwicklungen, die in der aktuellen Energiekrise nicht ausgeschlossen werden können, können die Versorgungssicherheit gefährden. Der VSE begrüsst deshalb eine subsidiäre freiwillige Finanzhilfe zur Überbrückung solcher Situationen.

Rückkehr in die Grundversorgung via ZEV: Regelung per 1.1.2023 in Aussicht

Die aktuell rekordhohen Marktpreise bringen viele Grossverbraucher von Strom (Verbrauch grösser als 100 Megawattstunden/Jahr) in Bedrängnis. Eine Rückkehr in die Grundversorgung ist gemäss dem Prinzip «einmal frei, immer frei» nicht möglich. Es sei denn, ein Endverbraucher des freien Markts schliesst sich einem Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) an, der sich in der Grundversorgung befindet. Der Vorgang ist gemäss ElCom unter dem Vorbehalt einer Rechtsmissbrauchsprüfung im Einzelfall zulässig, da ein ZEV nach dem Gesetz eine eigene Identität habe und somit die Wahl zwischen Grundversorgung und freiem Markt bestehe. Gleichwohl besteht Rechtsunsicherheit, da sich die Regelungen des StromVG (Netzzugang) und des EnG (Eigenverbrauch) nicht decken.

Im Rahmen der Diskussion zu einer Interpellation im Ständerat äusserte sich Bundesrätin Sommaruga nun zum weiteren Vorgehen des Bundes in diesem Thema. Demnach möchte der Bund einer Rückkehr in die Grundversorgung via ZEV nicht Einhalt gebieten, zumal ZEV den Zubau dezentraler Produktionsanlagen aus erneuerbaren Energien fördern. Der Bundesrat möchte aber verhindern, dass Grossverbraucher abhängig von den Strompreisen zwischen Grundversorgung und freiem Markt hin und her wechseln. Deshalb will er gemäss Aussagen von Bundesrätin Sommaruga per 1. Januar 2023 im Rahmen der Verordnungen zur Revision des Energiegesetzes vom 1. Oktober 2021 (Pa.Iv. Girod) eine Regelung einführen. Diese sehe für Marktkunden eine Karenzfrist von sieben Jahren vor. Danach könne der ZEV oder das Unternehmen wieder in den freien Markt wechseln.


Der VSE hatte bereits im Sommer auf die Problemstellung hingewiesen und den Bund aufgefordert, den Sachverhalt auf Verordnungsstufe zu klären. Dazu hatte der VSE auch einen eigenen Vorschlag eingebracht. Der VSE begrüsst daher grundsätzlich, dass nun zeitnah Rechtssicherheit in dieser Angelegenheit geschaffen werden dürfte. Eine konkrete Beurteilung ist indes erst aufgrund des Verordnungstexts möglich, welcher bislang noch nicht vorliegt.

Elektrofahrzeuge: Potenzial von Autobatterien nutzen

Der Ständerat beauftragt den Bundesrat, die Nutzung von Batterien parkierter Elektrofahrzeuge zum Zwischenspeichern von Strom und zur Stabilisierung des Netzes zu prüfen. Vehicle-to-Grid-Lösungen und Smart-Charging-Technologien erlauben es nicht nur netzdienlich zu Laden, sondern auch das Einspeisen des Stroms von der Batterie zurück ins Netz.


Die Ladevorgänge müssen zwingend netzverträglich gestaltet werden, damit das System und damit die Stromversorgung jederzeit stabil bleiben. Steuerungsmöglichkeiten durch Smart-Charging-Technologien sind daher besonders gefragt, zumal über 80 Prozent der Ladevorgänge im Privaten stattfinden. Gross ist auch das Potenzial von V2G-Lösungen. Es gibt jedoch noch regulatorische Fragen (etwa bei den Herkunftsnachweisen) zu klären.